Immer wieder begegne ich Aussagen wie: „Vielbegabung ist im Grunde auch nur ADHS.“ Auch einige Fachpersonen vertreten diese Sichtweise. Doch für mich greift das zu kurz.
Ja, es gibt viele Parallelen: Der Wunsch nach Abwechslung, das ständige Eintauchen in neue Themen, die Begeisterung für Vieles – all das kann sowohl bei Scanner-Persönlichkeiten als auch bei Menschen mit ADHS vorkommen.
Aber: Ich kenne viele hochbegabte Menschen, die sehr vielseitig interessiert sind, sich unglaublich rasch in neue Gebiete einarbeiten – und bei denen dennoch viele der typischen Merkmale von ADHS, wie sie in der Diagnostik verwendet werden, nicht im Vordergrund stehen. Natürlich gibt es auch bei ihnen eine oft besonders ausgeprägte Reizwahrnehmung, eine flexible Zeiterfassung oder eine intensive emotionale Verarbeitung – doch das bedeutet nicht automatisch ADHS.
Gleichzeitig weiss ich, dass vor allem Frauen mit ADHS oft jahrelang unentdeckt bleiben – weil sie früh gelernt haben, sich anzupassen. Ihre hohe kognitive Kompetenz hilft ihnen, vieles zu kompensieren, sodass ihre Besonderheiten lange im Hintergrund bleiben. Erst bei genauem Hinsehen wird sichtbar, wie viel Energie es kostet, im Alltag „gut zu funktionieren“.
Deshalb gilt: Wenn du dich als Scanner-Persönlichkeit erkennst, bedeutet das nicht automatisch, dass du ADHS hast – aber es schliesst es auch nicht aus und du brings Eigenschaften mit, die sich mit ADHS klar überschneiden.
Ich finde die Vorstellung am passendsten, dass all die Eigenschaften unseres Gehirns – auch im Bereich der Neurodivergenz – in einem Spektrum liegen; somit können wir alle diese Eigenschaften stärker oder weniger stark ausgeprägt in uns tragen.
Was Scanner-Persönlichkeiten und ADHS gemeinsam haben
- Vielseitige Interessen und hohe Neugier: Sowohl Scanner als auch Menschen mit ADHS haben oft viele Interessen, wollen ständig Neues lernen und lieben Abwechslung.
- Schnelle Auffassungsgabe: Beide Gruppen können sich rasch in neue Themen einarbeiten, jedoch nicht unbedingt in die Tiefe.
- Überdurchschnittliche Kreativität und Ideenfülle: Es sprudelt an Ideen – doch was davon umsetzen?
- Impulsives oder intuitives Handeln: Entscheidungen werden häufig aus dem Bauch getroffen – manchmal überlegt, manchmal spontan.
- Struktur als Herausforderung: Ob Kalender, To-do-Listen oder Zeitmanagement – klassische Strukturen helfen oft nicht so, wie sie sollten.
- Emotionale Intensität: Gefühle kommen schnell, intensiv und tief – besonders, wenn etwas als ungerecht oder unsinnig empfunden wird.
Wo liegen die Unterschiede zwischen Vielbegabung und ADHS?
1. Dranbleiben und Fokus
Ein häufig genannter Unterschied zwischen Scanner-Persönlichkeiten und ADHS betrifft die Fähigkeit, bei einer Sache zu bleiben. Doch dieser Vergleich braucht etwas Feingefühl.
Scanner verlieren oft das Interesse, sobald sie das Gefühl haben, genug über ein Thema zu wissen oder wenn das Neue fehlt. Die innere Neugier ist gestillt und andere Themen interessieren stärker. Barbara Sher (Du musst dich nicht entscheiden, wenn du 1000 Träume hast*), welche den Begriff der «Multipotentialites» geprägt hat, vergleicht das Interesse mit einer Biene, die von Blume zu Blume fliegt. Die Biene fliegt von Blume zu Blume. Auf jeder bleibt sie unterschiedlich lange – mal nur kurz, mal ein wenig länger. Doch sie scheint genau zu wissen, wann sie genug gesammelt hat. Dann fliegt sie weiter.
So erleben viele Scanner-Persönlichkeiten ihre Interessen. Sobald das Gefühl da ist, das Wesentliche eines Themas verstanden oder erlebt zu haben, entsteht kein Drang, tiefer zu graben – sondern weiterzufliegen. Nicht aus Unverbindlichkeit, sondern weil innerlich etwas sagt: „Das war’s – jetzt weiter.“
Bei ADHS kann es hingegen unabhängig vom Interesse schwierig sein, dranzubleiben. Das liegt unter anderem an Besonderheiten in der sogenannten Exekutivfunktion – also den Prozessen im Gehirn, die für Selbststeuerung, Planung und das Umsetzen von Absichten zuständig sind. Aufgaben, die keine unmittelbare Relevanz haben oder keinen starken Reiz bieten, werden als „langweilig“ erlebt – und es fällt schwer, sie durchzuziehen.
Aber: Das bedeutet keinesfalls, dass Menschen mit ADHS nicht dranbleiben können. Viele erleben genau das Gegenteil, wenn sie in den sogenannten Hyperfokus gelangen – einen Zustand höchster Konzentration und Produktivität. Dann kann es vorkommen, dass sie stundenlang vertieft in eine Sache arbeiten und alles um sich herum vergessen – oft sogar ohne Pausen oder Hunger zu spüren.
Deshalb ist es kein sicheres Unterscheidungsmerkmal, ob jemand gut oder schlecht „dranbleiben“ kann. Viel entscheidender ist: Was genau beeinflusst die Motivation und Selbststeuerung – und wie stabil ist diese über verschiedene Situationen hinweg?
2. Motivation und Zielverfolgung
Scanner-Persönlichkeiten sind oft stark intrinsisch motiviert. Ihre Energie entsteht aus echter Neugier, persönlichem Sinn oder einem inneren Forscherdrang. Ist das Interesse geweckt, tauchen sie intensiv ein und bringen viel in kurzer Zeit hervor. Sobald sie das Gefühl haben, „genug gesammelt“ zu haben, wenden sie sich mit derselben Begeisterung dem nächsten Thema zu – ohne schlechtes Gewissen, sondern mit innerem Kompass.
Menschen mit ADHS wünschen sich oft ebenso, bestimmte Dinge umzusetzen oder dran zu bleiben – doch ihr Gehirn funktioniert in Bezug auf Motivation und Aktivierung etwas anders. Relevanz, Belohnung, Dringlichkeit oder Reizstärke spielen eine grössere Rolle. Das bedeutet nicht, dass sie weniger wollen – sondern dass der Zugang zu Handlung und Umsetzung andere Bedingungen braucht. Wenn diese stimmen, können sie aussergewöhnlich produktiv, kreativ und fokussiert arbeiten.
3. Entscheidungsfindung und Priorisierung
Scanner-Persönlichkeiten haben oft so viele Ideen gleichzeitig, dass es ihnen schwerfällt, eine Auswahl zu treffen – nicht, weil sie sich verzetteln, sondern weil sie wirklich viele Optionen als gleichwertig und spannend empfinden. Ihre Herausforderung liegt eher im Priorisieren und Loslassen – nicht im Starten. Es fühlt sich manchmal so an, als müssten sie sich zwischen vielen Lieblingsprojekten entscheiden.
Menschen mit ADHS erleben Entscheidungsprozesse oft unter ganz anderen Vorzeichen: Gedanken springen, neue Impulse kommen dazwischen, und das Abwägen wird durch eine andere Art der Reizverarbeitung beeinflusst. Auch hier ist die Vielfalt der Interessen oft gross – doch das Sortieren, Strukturieren und Fokussieren braucht spezifische Strategien, um stimmige Entscheidungen zu treffen. Besonders hilfreich sind dabei visuelle Hilfsmittel, Klarheit über den nächsten kleinen Schritt – und Selbstmitgefühl.
Und wie finde ich nun heraus, was auf mich zutrifft?
Wenn du dich in manchen Beschreibungen wiedererkennst, heisst das noch lange nicht, dass du ein Etikett brauchst – aber vielleicht möchtest du besser verstehen, wie dein Denken und Fühlen funktioniert. Diese Fragen können dir dabei helfen:
- Fühle ich mich vor allem dann innerlich blockiert, wenn ich mich mit etwas beschäftigen soll, das mich nicht interessiert – oder kenne ich das Gefühl von Überforderung unabhängig vom Thema?
- Hatte ich eher das Gefühl, „nicht mitzuhalten“ – oder bin ich oft so schnell unterwegs, dass andere kaum Schritt halten können?
- Gelingt es mir, Strukturen zu schaffen, wenn ich das Ziel klar vor Augen habe – oder fällt mir das auch dann schwer, selbst wenn ich es wirklich will?
- Reicht mir ein gewisses Mass an Abwechslung und kreativer Freiheit – oder brauche ich ständig neue Reize, damit ich mich lebendig fühle?
Hast du das Gefühl, du passt eher bei der Kategorie ADHS und die Tipps für Multipotentialites bringen dich nicht wirklich weiter? Sprich mit einem Arzt darüber. Es wäre blöd, wenn du jahrelang versuchst dich mit Tipps für Scanner-Persönlichkeiten rumzuschlagen, dabei hättest du Unterstützung mit deinem ADHS gebraucht!